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Bandscheibenvorfall (Discopathie, Diskopathie)

 

 

Informationen zur Anatomie und Funktion

Das Rückenmark ist ein zum Zentralnervensystem (ZNS) gehörender Strang, der vom Gehirn bis in den hinteren Bereich der Lendenwirbelsäule reicht. Die Nerven des Rückenmarkes haben viele Funktionen. Sie sind an der Steuerung der Inneren Organe beteiligt. Außerdem sind sie unverzichtbar für die Sensorik des Rumpfes und die willkürliche Bewegungsfähigkeit und Sensibilität der Gliedmaßen. Auch die Beweglichkeit der Rumpfmuskulatur, des Halses sowie die Atemfunktion ist ohne bestimmte Nerven des Rückenmarkes nicht möglich. 

Da das Rückenmark lebenswichtig ist, wird es innerhalb des Wirbelkanals gut geschützt.
Um die Beweglichkeit der Wirbelsäule zu gewährleisten, ist die Wirbelsäule segmental aufgebaut. Knöcherne Wirbel wechseln sich mit knorpeligen Bandscheiben ab. Die Bandscheiben ermöglichen Bewegungen zwischen den Wirbeln, sind aber stabil genug um großen Belastungen stand zu halten. Jede Bandscheibe hat ein gallertiges Zentrum (Nucleus pulposus, in der Abbidung blau), das von einem faserigen Ring (Anulus fibrosus, in der Abbildung grün) umgeben ist. Jeder knöcherne Wirbel besteht aus einem Wirbelkörper, der auch den Boden des Wirbelkanals bildet. Darüber ist der Wirbelbogen gespannt, der die seitliche und obere Abdeckung des Wirbelkanals darstellt. Vom Wirbelbogen und dem Übergang zwischen Wirbelkörper und Wirbelbogen entspringen verschiedene Fortsätze als Muskelansätze und gelenkbildende Elemente. Ferner gibt es entlang der Wirbelsäule mehrere Bänder, durch welche die Stabilität der Wirbelsäule weiter erhöht wird.

 

Die Nerven des Rückenmarkes sind ausgesprochen empfindlich. Werden sie zusammengedrückt, gezerrt und/oder von ihrer Blutversorgung getrennt, erfüllen sie ihre Funktion nicht mehr. Je nach Ausmaß der Schäden kommt es zu Schmerzen und mehr oder weniger starken neurologischen Ausfällen (Bewegungsstörungen, Reflexausfälle, Inkontinenz u.a.). Die Regeneration kann langwierig sein oder ausbleiben. Je stärker der Schaden und je langanhaltender die Kompression, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit eines dauerhaften Funktionsverlustes. Vollständig durchtrennte oder abgestorbene Nervenfasern erholen sich normalerweise nicht mehr.

 

Ursachen für Rückenmarksschäden

Schäden des Rückenmarkes können verschiedene Ursachen haben. Außer beim „Bandscheibenvorfall“ (Discopathie) kann es auch durch Wirbelfrakturen (Knochenbrüche des Wirbels), Wirbelluxationen (Verrenkungen), Tumoren, Infektionen, Embolien und andere Ursachen geschädigt werden. Teilweise ist die Ursache unbekannt und selbst durch aufwändige Diagnostik nicht feststellbar.

Die häufigste im Bereich der Wirbelsäule liegende Ursache für neurologische Ausfälle ist jedoch der Bandscheibenvorfall. Bei betroffenen Tieren finden meist bereits seit geraumer Zeit Umbauvorgänge (Degeneration) in den betroffenen Bandscheiben statt. Die vorgeschädigte Bandscheibe hat eine höhere Neigung, durch eine Vorwölbung oder einen Riss zur Kompression des Rückenmarkes zu führen. Da die Erkrankung bei Teckeln häufig vorkommt, wird sie fälschlicherweise oft als "Dackellähme" bezeichnet. Dieser Begriff ist etwas irreführend, da der Bandscheibenvorfall sehr häufig auch bei anderen Rassen, hin und wieder auch bei Katzen, auftritt.

 

Formen des Bandscheibenvorfalls

 

Grundsätzlich gibt es zwei Formen von Bandscheibenvorfällen:

1. Der faserknorpelige Ring reißt ein und der gallertige Kern fällt plötzlich in Richtung Rückenmark in den Wirbelkanal vor (Bandscheibenvorfall Hansen Typ 1). Diese Vorfälle sind meistens mit einer akuten Symptomatik verbunden (plötzliche Schmerzen, plötzliche neurologische Ausfälle bzw. Lähmungserscheinungen). Teilweise beginnt die Symptomatik mit plötzlichen Schmerzen und verschlimmert sich dann durch den Vorfall weiteren Bandscheibenmaterials, einen Bluterguss oder die entzündliche Reaktionen weiter. 

2. Es kommt zur Aufweichung des Faserringes. Er wölbt sich vor. Der Gallertkern ist zu diesem Zeitpunkt meistens ebenfalls schon degeneriert und drückt den Faserring weiter vor in Richtung Rückenmark (Hansen Typ 2). Die Symptome entwickeln sich bei dieser Form häufig schleichend und werden nach und nach schlechter. Durch die lang anhaltende Beeinträchtigung der Blutversorgung treten hier häufiger Dauerschäden der Nerven auf, die Prognose ist also bei vergleichbaren Ausfällen in der Regel schlechter als bei Hansen Typ 1-Vorfällen.

Symptome und Therapieentscheidung

Die Therapie hängt vom Grad der neurologischen Ausfälle und der Dauer der Symptome ab.
Um die Therapieentscheidung nach vergleichbaren Kriterien treffen zu können, werden die Symptome in Grade eingeteilt:
Grad 1: Reine Schmerzsymptomatik
Grad 2: Koordinationsstörung der betroffenen Gliedmaßen (Ataxie)
Grad 3: Unvollständige Lähmung der betroffenen Gliedmaßen (Parese) bei erhaltener Gehfähigkeit
Grad 4: Unvollständige Lähmung der betroffenen Gliedmaßen ohne Gehfähigkeit
Grad 5: Vollständige Lähmung der betroffenen Gliedmaßen (Paralyse, Plegie) bei erhaltenem Tiefenschmerz
Grad 6: Vollständige Lähmung der betroffenen Gliedmaßen ohne Tiefenschmerz

 

Diagnosestellung

Durch die klinische neurologische Untersuchung kann in der Regel festgestellt werden, dass eine Erkrankung des Rückenmarkes vorliegt und welche Rückenmarksregion betroffen ist. Auch der Schweregrad der neurologischen Ausfälle wird klinisch festgestellt.
Ob die Ursache der Erkrankung jedoch ein Bandscheibenvorfall ist oder ob das Tier an einer anderen Erkrankung leidet, kann auf diese Art nicht festgestellt werden. Auch zur Klärung der Frage, welcher Zwischenwirbelspalt oder Wirbel genau betroffen ist, ist die klinische neurologische Untersuchung nicht geeignet.

Die eigentliche Diagnose wird daher in der Regel durch eine Computertomographie, Kontraströntgenuntersuchungen oder Magnetresonanztomographie gestellt. Auf diese Weise kann nicht nur die Ursache der Symptome festgestellt werden sondern auch, welche Bandscheibe genau betroffen ist und zu welcher Seite hin der Vorfall verläuft. Die letzten beiden Faktoren sind für die Planung einer eventuellen Operation von entscheidender Bedeutung.
Ist bei einem Patienten von Beginn an klar, dass eine Operation nicht in Frage kommt (zum Beispiel wenn die Symptomatik zu gering ist oder auch aus finanziellen Gründen), sollte von aufwändiger bildgebender Diagnostik vorerst abgesehen werden. Diese Untersuchungen müssen in Vollnarkose durchgeführt werden. Die Narkose kann die neurologische Situation verschlechtern. Daher ist sie nur dann indiziert, wenn die Therapie vom Ergebnis der Diagnostik abhängt.

 

Konservative Therapie

Patienten mit Vorfällen 1. und 2. Grades sollten vorerst konservativ behandelt werden – es sei denn, die konservative Therapie wurde bereits erfolglos versucht oder es kommt zum Rezidiv (wiederholtes Auftreten).
Zur Schmerzlinderung und Entzündungshemmung sollten nichtsteroidale Entzündungshemmer angewandt werden. Glucocorticoide (Cortison-Präparate) sind hingegen nicht indiziert. Inzwischen ist durch zahlreiche Studien belegt, dass systemische Cortisongaben weder bei akuten noch bei chronischen Bandscheibenvorfällen vorteilhaft sind, aber entscheidende Nebenwirkungen verursachen.
Die lokale Applikation von Cortison und Lokalanästhetika im Sinne einer Periradikulären Therapie (PRT) kann hingegen in einzelnen Fällen sinnvoll sein. Diese Anwendungen können jedoch erst nach genauer Lokalisierung des Vorfalles durchgeführt werden und sollten Computertomographie-geführt erfolgen.
Ein weiterer wesentlicher Baustein der konservativen Therapie ist die anfängliche Schonung (ca. eine Woche). Anschließend sollte durch einen langsamen Anstieg der Belastung und durch intensive physiotherapeutische Maßnahmen der Aufbau der Muskulatur und der Erhalt der Beweglichkeit gefördert werden, ohne den Patienten zu überlasten.
Tritt durch diese Maßnahmen keine Besserung ein oder kommt es unter der Therapie zu einer Verschlechterung, sollte auf keinen Fall zu lange mit einer Operation gewartet werden. Wird das Rückenmark nicht entlastet, kann es zu Dauerschäden kommen, die nicht wieder rückgängig zu machen sind.

 

Chirurgische Therapie

Patienten mit Symptomen 3., 4. und 5. Grades sollten in jedem Fall schnellstmöglich operiert werden. Wird bei einem solchen Fall erst noch eine Woche die konservative Therapie versucht und eine weitere Verschlechterung in Kauf genommen, kann es zu irreversiblen Nervenschäden kommen. Das Rückenmark kann chirurgisch nicht repariert werden. Der Chirurg kann das Rückenmark entlasten, indem er den Wirbelkanal eröffnet und das vorgefallene Bandscheibenmaterial entfernt. Die Heilung der Nerven muss der Körper jedoch selbst bewirken. Je länger die Blutgefäßversorgung durch das Bandscheibenmaterial unterbrochen wurde, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit irreversibler Nervenschädigungen.

Wichtig ist, dass die Operation durch einen erfahrenen Chirurgen durchgeführt wird. Die Operation birgt zwar auch in erfahrenen Chirurgenhänden immer ein gewisses Risiko der Verschlechterung der neurologischen Situation – die Narkose verschlechtert die Blutversorgung vorübergehend weiter und während der Operation kommt es zu unvermeidbaren Erschütterungen. Das kann selbst bei sehr vorsichtiger Operationweise zu einer neurologischen Verschlechterung bis hin zur Querschnittslähmung führen. Ein unerfahrener oder unvorsichtiger Chirurg läuft jedoch zusätzlich Gefahr, durch direkte Manipulation am Rückenmark weitere Schäden auszulösen. Die Wahrscheinlichkeit dauerhafter Nervenschäden nimmt daher mit steigender Erfahrung und Umsicht stetig ab.

Einzelheiten zum chirurgischen Vorgehen bei Bandscheibenvorfällen

Das Rückenmark ist durch den Wirbelkanal rundum gut geschützt. Um an das vorgefallene Bandscheibenmaterial heran zu kommen, muss der Wirbelkanal an einer Stelle eröffnet werden. Je nach Richtung des Vorfalls und betroffener Rückenmarksregion (Hals, Brust-Lenden-Region, Lenden-Kreuzbein-Region) ist der Zugang unterschiedlich zu wählen.

Wird der Wirbelbogen (= Lamina) einseitig eröffnet, spricht man von einer „Hemilaminektomie“. Der Wirbelbogen wird seitlich eröffnet und das vorgefallene Bandscheibenmaterial entfernt. Im Bereich der Brust- und Lendenwirbelsäule ist das der Standardzugang für seitliche Bandscheibenvorfälle.

Eröffnet man den Wirbelbogen rückenseitig (dorsal) wird von einer „dorsalen Laminektomie“ gesprochen. Hier erfolgt die Öffnung ebenfalls im Bereich des Wirbelbogens. Da das Bandscheibenmaterial jedoch in der Regel bauchseitig oder seitlich liegt, wird dieser Zugang fast ausschließlich im Bereich des Überganges zwischen Lendenwirbelsäule und Kreuzbein angewandt. Hier ist das sehr empfindliche Rückenmark zu Ende und wird nicht geschädigt. Die dort liegenden Nerven können (im Gegensatz zum Rückenmark) während der Operation vorsichtig zur Seite geschoben werden, ohne dabei Schaden zu nehmen.

 

Insbesondere im Halsbereich wird sehr häufig der Wirbelkörper von ventral (bauchseitig, Halsunterseite) eröffnet. Man spricht hier von einem „Ventral Slot“. An der Halsunterseite liegen zwar wichtige Strukturen (Luftröhre, Speiseröhre, Nerven, Gefäße, Schilddrüsen). Diese können jedoch für den Zugang zur Wirbelsäule leicht zur Seite geschoben werden. Die Oberseite der Wirbelsäule ist hingegen von einer ausgesprochen starken Muskelschicht umgeben. Der dortige Zugang wird daher nur in Ausnahmefällen gewählt.

 

Bei Vorfällen in der Brust-Lenden-Region, die aber von der Lamina aus schlecht zu erreichen sind, wird eine seitliche Entfernung des Wirbelkörpers verwendet, um den Wirbelkanal zu eröffnen („laterale Korpektomie“). Dieser Zugang ist umständlicher als die Eröffnung des Wirbelbogens, da man in dieser Region schlecht an den Wirbelkörper heran kommt. Der Vorteil der Methode liegt aber darin, dass das Rückenmark zur Entfernung von Bandscheibenmaterial auf diese Weise so gut wie gar nicht manipuliert werden muss.

 

Erfolgsaussichten/Prognose

Patienten mit akuten Symptomen 1. bis 4., teilweise auch 5., Grades haben eine gute Prognose, nach der Operation und der Ausheilungsphase wieder ein normales Leben führen zu können. Bei Patienten, die diese Symptome über Wochen bis Monate zeigen (v.a. bei Hansen-Typ-2-Vorfällen) ist die Prognose deutlich schlechter. In diesen Fällen trägt die Operation jedoch zur Schmerzlinderung bei. Eine Verbesserung kann außerdem dennoch auftreten, weshalb auch hier zur Chirurgie geraten werden kann.

Ganz wichtig ist auch bei chirurgischem Vorgehen die postoperative Physiotherapie (Krankengymnastik).

Patienten mit hochgradigen Symptomen

Patienten mit Symptomen 6. Grades müssen in zwei Klassen eingeteilt werden. Bei vollständig gelähmten Patienten ist die Frage, ob sie Tiefenschmerz verspüren können, von entscheidender Bedeutung. Der Ausfall des Tiefenschmerzes ist das schwerste neurologische Symptom, das nach einer Läsion des Rückenmarkes auftreten kann. Je länger dieser Ausfall anhält, desto unwahrscheinlicher ist die Erholung. Eine Faustregel besagt, dass ein Ausfall des Tiefenschmerzes über länger als 24 bis 48 Stunden zu einer infausten (hoffnungslosen) Prognose führt. Bei diesen Patienten wird in der Literatur nicht mehr zu einer Operation geraten, obwohl sie ein einzelnen Fällen erfolgreich sein kann.

 

Fazit

Bei Bandscheibenvorfällen ist von Beginn an eine richtige Entscheidungsfindung wichtig. Obwohl die Prognose in den meisten Fällen günstig ist, kann sie durch falsche Schritte in der Anfangsphase deutlich schlechter werden.

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